Wili Schulz, Sie machten 1959 ihr erstes Län­der­spiel. Sepp Her­berger, ihr dama­liger Trainer, wollte par­tout nicht am EM-Tur­nier teil­nehmen. Woher rührte seine Abnei­gung?
Willi Schulz: Sein Haupt­ar­gu­ment war: Die EM liegt zwi­schen zwei Welt­meis­ter­schaften und stört die Vor­be­rei­tung. Die EM hatte damals eine ganz andere Wer­tig­keit als eine WM.

1968 mel­dete der DFB die Natio­nal­mann­schaft erst­mals zur EM-Qua­li­fi­ka­tion an.

Willi Schulz: Richtig. Einer­seits machte die UEFA Druck: Deutsch­land als große Fuß­ball­na­tion müsse teil­nehmen. Ande­rer­seits hatte sich das Tur­nier auch eta­bliert, an Ansehen gewonnen und der DFB konnte sich nicht mehr erlauben, nur die Zuschau­er­rolle zu bekleiden.

Herr Patzke, für Helmut Schön war das 0:0 in Tirana sein schwär­zester Tag als Bun­des­trainer“. Wie war es für Sie als Spieler?

Bernd Patzke: Es gibt so Tage, da läuft es über­haupt nicht. Und dieser 17. Dezember 1967 war so ein Tag. Er ist in die Memoiren des Deut­schen Fuß­balls ein­ge­gangen. Und des­wegen spre­chen wir ja heute mit­ein­ander. (lacht) Ich würde ihn aller­dings nicht den schwär­zesten Tag in meiner Kar­riere“ nennen.

Den­noch: Es ist ein Tag im Deut­schen Fuß­ball, der ver­mut­lich in 50 Jahren noch negativ besetzt sein wird.

Bernd Patzke: Die eine Nation zehrt Jahr­zehnte von so einem Ereignis, für die andere ist dieser Tag für ewig negativ behaftet. Denken Sie nur an Cor­doba! Für die einen ist es die Schmach von Cor­doba“, für die anderen das Wunder von Cor­doba“. Und an diesem Wunder zieht sich Öster­reich seit nun­mehr seit 30 Jahren hoch. Das ist doch fast ein wenig absurd.

Haben Sie an jenem Dezem­bertag in Tirana wirk­lich so schlecht gespielt oder war alles großes Pech?

Bernd Patzke: Wir haben de facto 90 Minuten auf ein Tor gespielt – und mit­unter sogar recht ansehn­lich. Selbst ich als Ver­tei­diger schoss einmal gegen den Pfosten. Und wir spielten zu Null. Die Abwehr stand fel­sen­fest und hat keine ein­zige Tor­chance der Albaner zuge­lassen. Es war also nicht alles schlecht.

Willi Schulz: Das stimmt. Wir waren drü­ckend über­legen, wir waren ja auch recht offensiv auf­ge­stellt. Es fehlte ein­fach das erlö­sende Tor.

Lag es viel­leicht auch daran, dass Gerd Müller nicht dabei war?

Bernd Patzke: Die Aus­rede lasse ich nicht gelten. Natür­lich war es bitter, dass wir ohne Gerd Müller spielten. Er erzielte im Hin­spiel ja vier Tore. Die Offen­sive war trotzdem bes­tens besetzt: Mit Netzer, Küp­pers, Ove­rath und…

Willi Schulz: …Mit­tel­stürmer Peter Meyer, der gerade von For­tuna Düs­sel­dorf zu Borussia Mön­chen­glad­bach gewech­selt war und dort zum treff­si­chersten Stürmer der Liga avan­cierte. Es sollte aber sein erstes und ein­ziges Län­der­spiel sein.

Für viele war das Spiel zum wie­der­holten Male der Beweis, dass ein Mit­tel­feld mit Netzer und Ove­rath nicht funk­tio­nieren kann. Für Sie auch?

Bernd Patzke: Nein, es hat ja geklappt. Bei der EM 1972 etwa. Und wenn wir in Tirana 1:0 gewonnen hätten, dann hätte keiner dar­über geredet.

Auch der Rest der Bayern-Achse fehlte. Sepp Maier und Franz Becken­bauer blieben ebenso zu Hause.

Bernd Patzke: Richtig. Das war meine ein­ge­schwo­rene Mün­chener Rei­se­gruppe. Wir vier kamen immer gemeinsam aus Mün­chen an, und zumeist schliefen wir auch in einem Zimmer.

Zu viert?

Bernd Patzke: Ja, das war damals absolut normal. Und an Hotels war oft­mals gar nicht zu denken – wir schliefen meis­tens in Sport­schulen. 1968 waren wir etwa in Malente, da haben fünf oder sechs Spieler in einem Zimmer gewohnt.

In Tirana aber über­nach­teten Sie in einem Hotel.

Bernd Patzke: Richtig. Das Hotel war unglaub­lich karg, die Leute waren alle grün gekleidet und trugen alle die Chi­na­mützen. Der dama­lige Führer Alba­niens, Enver Hoxha, hatte in den 60er Jahren ein sehr enges Bündnis nach China – in den ersten Jahren unter seiner Ägide wurde der Mao­ismus zur offi­zi­ellen Linie seiner Partei erhoben. Des­wegen lag im Hotel überall die Mao-Bibel herum.

Willi Schulz: Ich erin­nere mich auch, dass es da fast nur Fahr­räder gab. Damals gab es noch keine Autos in Alba­nien. Diese Reise fühlte sich an wie eine Reise zum Mond.

Net­zers Begrün­dung für das 0:0 in Tirana war sehr ein­fach. Er sagte: Wir hatten kaum etwas zu essen.“

Willi Schulz: Es gab kein Fleisch, nur Brot und Eier. Die Eier kamen aus einem Eier­kom­binat.

Bernd Patzke: Das Essen war jeden­falls nicht son­der­lich schmack- und nahr­haft. Später sind wir in sozia­lis­ti­sche und kom­mu­nis­ti­sche Länder mit eigenem Koch hin­ge­reist – der Stab wurde mit der Zeit immer größer. Damals in Tirana war es wirk­lich grausam, aber das soll keine Ent­schul­di­gung sein.

War denn wenigs­tens der Platz bespielbar?

Bernd Patzke: Für Kinder wäre es der per­fekte Bolz­platz gewesen: Ein Sand­feld mit ein paar grünen Büscheln. Für ein EM-Qua­li­fi­ka­ti­ons­spiel natür­lich ein schlechter Witz.

Willi Schulz: Der Rasen war wirk­lich unglaub­lich holprig, dazu 40.000 Zuschauer, die fast bis zur Sei­ten­aus­linie standen und jeden Fehl­pass von uns höh­nisch beklatschten. Wir waren schon sehr ver­un­si­chert.

Gab es denn damals kei­nerlei Vor­schriften der UEFA?

Bernd Patzke: Nein. Ich habe zu der Zeit auch mal auf Zypern gespielt – auf einem Schla­ckeplatz. Da sind sie vor und wäh­rend des Spiels mit dem Spreng­wagen drauf gefahren, weil es so stark staubte.

Sie hatten das Hin­spiel mit 6:0 gewonnen, sind Sie viel­leicht zu sie­ges­si­cher in die Partie gegangen?

Bernd Patzke: Viel­leicht. Aber du musst doch, wenn du als amtie­render Vize-Welt­meister nach Tirana reist, sie­ges­si­cher auf­laufen. Damals gab es ja diese These Es gibt keine Kleinen mehr“ noch nicht. Denn es gab diese Kleinen“ – und Alba­nien war fuß­bal­le­risch sehr klein. Damals konnte man auch noch unum­wunden sagen: Die fegen wir weg!“ Wir waren uns ein­fach hun­dert­pro­zentig sicher, dass die, wenn wir das erste Tor schießen, zusam­men­ge­faltet werden.

Max Merkel tönte vor dem Spiel, dass der DFB auch eine durch­schnitt­liche Bun­des­li­ga­mann­schaft nach Tirana schi­cken könnte. Ließen sich die Spieler von der über­heb­li­chen Stim­mung in Deutsch­land anste­cken?

Willi Schulz: Nein. Wir wussten um die Bedeu­tung des Spiels, und wir wussten auch, dass man Mann­schaften nie unter­schätzen sollte. Von Über­heb­lich­keit war da eigent­lich keine Spur.

Bernd Patzke: Das Pro­blem war viel­leicht, dass man früher ein­fach gar keine Ver­gleichs­mög­lich­keiten hatte. Unsere Sie­ges­ge­wiss­heit fußte einzig auf Sta­tis­tiken und auf dem Hin­spiel in Dort­mund. Früher hatte man ja nicht die Mög­lich­keit, Spieler zu beob­achten, jeden­falls nicht in der Inten­sität und en Detail wie später. Wenn ich mich heute über einen Spieler infor­mieren will, wissen will, wie schnell, wie groß der ist, welche Posi­tion der spielt, benö­tige ich ja nur ein paar Klicks auf meinem Laptop und fertig. Das soll aber auch keine Aus­rede sein: Denn für die Albaner war es ja nicht anders.

Sie kannten die Spieler also nicht mal mit Namen?

Bernd Patzke: Die Namen kannte ich nur vom Spie­ler­bogen. Das war fast wie ein Hob­by­spiel im Park – und irgendwie irreal.

Willi Schulz: Die waren abge­schirmt von dem eisernen Vor­hang, und dieser Vor­hang war dop­pelt so dick, denn es war der chi­ne­si­sche Vor­hang. Die kämpften aber wie die Wilden. Die wehrten sich mit Händen und Füßen, mit Zähnen und Klauen.

Zer­fleischten sich die deut­schen Spieler nach dem Spiel?

Bernd Patzke: Nein, wir haben ja auch gut gespielt. Da gab es kei­nerlei Vor­würfe. So etwas habe ich damals eh nie erlebt. Der Team­geist in der Mann­schaft war unge­bro­chen.

Als Sie nach Deutsch­land zurück­kamen stand am Flug­hafen stand kein ein­ziger Fan, nur das Boden­per­sonal. Und von diesem mussten Sie sich beschimpfen lassen.

Bernd Patzke: Diese ganze Reise umgab eine sehr merk­wür­dige Atmo­sphäre. Das fing im Hotel an, ging im Sta­dion weiter und hörte in Deutsch­land nicht auf. Im Sta­dion habe ich etwa keine ein­zige Frau gesehen. Im Hotel war die Stim­mung nicht gerade herz­lich und wäh­rend des Spiels merkten wir irgend­wann: Wir können hier immer weiter spielen, wir werden kein Tor schießen.

Für den fein­geis­tigen Helmut Schön war das ernied­ri­gend.

Bernd Patzke: Das stimmt. Und es wurde noch schlimmer, denn die Bild“ machte am nächsten Tag Stim­mung und schrieb: Nun lasst den Merkel ran!“

Willi Schulz: Von der Bild“-Reporter ist Moritz von Grod­deck, der ehe­ma­lige Olym­pia­sieger im Rudern, mit nach Tirana gekommen. Und der schrieb einen bit­ter­bösen Kom­mentar zum Spiel. Aber man kann nach einem 0:0 in Alba­nien auch nicht wirk­lich was anderes erwarten.

Bernd Patzke: Den­noch: Schön konnte gar nichts für die Nie­der­lage. Und glück­li­cher­weise hörte beim DFB nie­mand auf die Presse.

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